MEXIKO I
Eine Zugfahrt im Norden (1982)
Nach einer schlaflosen Nacht im Bus von Ciudad Juarez nach Chihuahua sitze ich im Zug nach Creel. Ich bin offenbar der einzige Ausländer, zumindest in der 2. Klasse. Die Mitreisenden sind meist freundlich und/oder neugierig und es gibt die üblichen Fragen nach dem Woher, dem Wohin und dem Warum. Da ich weder zu einem Markt fahre, keinen Verwandtenbesuch plane und auch nicht auf Arbeitssuche bin, sage ich ihnen wahrheitsgemäß, dass ich die Reise zum Vergnügen mache, um der Reise willen. Daraufhin sind sie bass erstaunt: „Sólo para pasearse?“ - nur zum Vergnügen? Auch wenn ich mit knappem Budget reise, bleibt wohl bei ihnen und bei mir der Eindruck, dass ich vergleichsweise reich bin. Ich bekomme trotzdem Essen angeboten, als ich nicht gleichzeitig mit allen anderen meinen Proviant auspacke. Alles was nicht genießbar ist, von Essensresten über Servietten bis zu den Zigarettenstummeln, wandert beim Fenster des Abteils hinaus....
In La Junta hat am Sitz schräg gegenüber ein Mann Platz genommen, der direkt aus einem Cowboyfilm gestiegen zu sein scheint: Hut, kariertes Hemd,enge graue Hose, spitze beige Westernstiefel, nur die Sporen fehlen. Ein Bein hat er meist lässig auf der Lehne des gegenüberliegenden Sitzes postiert, die schwarzen Koteletten am schmalen Gesicht reichen fast bis zum Schnurrbart und immer wieder spuckt er auf den Boden. Er spricht zwar mit niemandem, aber sein Blick ist selbstsicher, fast überheblich.
Mir direkt gegenüber sitzt das Gegenteil davon. Dem Aussehen nach zu schließen ist der Bursche Indianer. Den Hut hat er tief in die Stirn gezogen, der Blick ist nach unten gerichtet. Sogar wenn er beim Fenster hinausblickt, schaut er nach unten. Seinen Platz hat er den ganzen Nachmittag noch nicht verlassen und auch die Sitzposition kaum geändert. Auf die Vorgänge in seiner Umgebung reagiert er so gut wie gar nicht, sagt nichts, fragt nichts, schaut niemanden an. Auf direkte Fragen an ihn antwortet er knapp. Ich biete ihm Zigaretten und Nüsse an, er nimmt beides, ohne mit der Wimper zu zucken. Wenn er einen Seitenblick wagt, dann nur ganz verstohlen. Das Warten, Dulden und möglichst nicht Auffallen scheint schon in seinen Genen eingeschrieben zu sein. Als er schließlich geht, geschieht es fast lautlos, er huscht weg ohne Worte und ohne jemanden anzusehen.
Mexico City (1982)
José ist erst vor wenigen Tagen aus Nicaragua zum Studium nach Mexico City gekommen. Er hat aus seiner Heimat besten Rum, „Flor de Cana“, mitgebracht und wir nehmen eine kleine Flasche davon mit auf die Plaza Garibaldi. Es ist Wochenmitte und es ist Mitternacht, trotzdem herrscht dort ein unglaubliches Leben. Einheimische und Touristen bevölkern den Platz und der Lärmpegel ist entsprechend hoch. Während wir die Flasche leeren, plaudern wir und José erzählt mir von seiner Heimat und der Gefahr eines Krieges mit Honduras.
Dann treffe ich zufällig Mikael wieder, einen finnischen Soziologen, den ich am Vorabend kennengelernt hatte. Er nimmt an einem Kongress teil und ist jetzt in Begleitung einiger mexikanischer Kollegen unterwegs. Wir verbrüdern uns alle und lassen bei Trinksprüchen die nicaraguanisch-mexikanisch-österreichisch-finnische Revolution hochleben und es uns im Übrigen bei Bier und Tequila gutgehen. Stilgerecht endet die Nacht am Morgen mit einer Art von Gulaschsuppe in einer Markthalle und eine Mariachi-Band sorgt noch für folkloristische Untermalung....
Ich stehe mit dem Stadtplan in der Hand vor dem Eingang zu einer Metro-Station, als mich eine junge Mexikanerin anspricht, ob sie mir helfen könne. Wir kommen ins Gespräch und Janet lädt mich schließlich ein, mein Gepäck, das ich nicht in den Süden Mexikos und nach Guatemala mitschleppen möchte, bei ihrer Familie, die in einer Wohnung in einem bürgerlichen Stadtrandviertel lebt, bis zum Rückflug zu deponieren. Ungewöhnlich, in einer Metropole angesprochen zu werden! Und bei der Hinfahrt bekomme ich einen Eindruck von der beeindruckenden Größe dieser Stadt. Etwa fünfzehn Millionen Menschen leben hier unter einer immensen Dunstglocke, die meisten von ihnen zugezogen aus den armen Landregionen auf der Suche nach Arbeit und Auskommen.
Der Bruchteil einer Sekunde ist jene Zeitspanne, die in Mexiko City zwischen dem Umschalten einer Ampel auf Grün und dem ersten Hupsignal vergeht.
Ausflug nach Teotihuacán, das von den Azteken diesen Namen (=Wo man zu einem Gott wird) bekam, obwohl sie sie schon als Ruinenstadt vorfanden. Vor der Sonnenpyramide treffe ich einen US-Amerikaner, den ich schon aus dem Bus kenne. Er bittet mich, ein Foto von ihm vor dieser Hauptsehenswürdigkeit zu machen. Als ich ablehne, von ihm ebenfalls fotografiert zu werden, fragt er erstaunt und etwas ratlos, wie ich denn beweisen wolle, dass ich da gewesen bin.
Wenn ich dem aztekischen Namen Glauben schenke, habe ich damit quasi auf einen Beweis persönlicher Göttlichkeit verzichtet. Eigentlich schade!
Eine Zugfahrt im Norden (1982)
Nach einer schlaflosen Nacht im Bus von Ciudad Juarez nach Chihuahua sitze ich im Zug nach Creel. Ich bin offenbar der einzige Ausländer, zumindest in der 2. Klasse. Die Mitreisenden sind meist freundlich und/oder neugierig und es gibt die üblichen Fragen nach dem Woher, dem Wohin und dem Warum. Da ich weder zu einem Markt fahre, keinen Verwandtenbesuch plane und auch nicht auf Arbeitssuche bin, sage ich ihnen wahrheitsgemäß, dass ich die Reise zum Vergnügen mache, um der Reise willen. Daraufhin sind sie bass erstaunt: „Sólo para pasearse?“ - nur zum Vergnügen? Auch wenn ich mit knappem Budget reise, bleibt wohl bei ihnen und bei mir der Eindruck, dass ich vergleichsweise reich bin. Ich bekomme trotzdem Essen angeboten, als ich nicht gleichzeitig mit allen anderen meinen Proviant auspacke. Alles was nicht genießbar ist, von Essensresten über Servietten bis zu den Zigarettenstummeln, wandert beim Fenster des Abteils hinaus....
In La Junta hat am Sitz schräg gegenüber ein Mann Platz genommen, der direkt aus einem Cowboyfilm gestiegen zu sein scheint: Hut, kariertes Hemd,enge graue Hose, spitze beige Westernstiefel, nur die Sporen fehlen. Ein Bein hat er meist lässig auf der Lehne des gegenüberliegenden Sitzes postiert, die schwarzen Koteletten am schmalen Gesicht reichen fast bis zum Schnurrbart und immer wieder spuckt er auf den Boden. Er spricht zwar mit niemandem, aber sein Blick ist selbstsicher, fast überheblich.
Mir direkt gegenüber sitzt das Gegenteil davon. Dem Aussehen nach zu schließen ist der Bursche Indianer. Den Hut hat er tief in die Stirn gezogen, der Blick ist nach unten gerichtet. Sogar wenn er beim Fenster hinausblickt, schaut er nach unten. Seinen Platz hat er den ganzen Nachmittag noch nicht verlassen und auch die Sitzposition kaum geändert. Auf die Vorgänge in seiner Umgebung reagiert er so gut wie gar nicht, sagt nichts, fragt nichts, schaut niemanden an. Auf direkte Fragen an ihn antwortet er knapp. Ich biete ihm Zigaretten und Nüsse an, er nimmt beides, ohne mit der Wimper zu zucken. Wenn er einen Seitenblick wagt, dann nur ganz verstohlen. Das Warten, Dulden und möglichst nicht Auffallen scheint schon in seinen Genen eingeschrieben zu sein. Als er schließlich geht, geschieht es fast lautlos, er huscht weg ohne Worte und ohne jemanden anzusehen.
Mexico City (1982)
José ist erst vor wenigen Tagen aus Nicaragua zum Studium nach Mexico City gekommen. Er hat aus seiner Heimat besten Rum, „Flor de Cana“, mitgebracht und wir nehmen eine kleine Flasche davon mit auf die Plaza Garibaldi. Es ist Wochenmitte und es ist Mitternacht, trotzdem herrscht dort ein unglaubliches Leben. Einheimische und Touristen bevölkern den Platz und der Lärmpegel ist entsprechend hoch. Während wir die Flasche leeren, plaudern wir und José erzählt mir von seiner Heimat und der Gefahr eines Krieges mit Honduras.
Dann treffe ich zufällig Mikael wieder, einen finnischen Soziologen, den ich am Vorabend kennengelernt hatte. Er nimmt an einem Kongress teil und ist jetzt in Begleitung einiger mexikanischer Kollegen unterwegs. Wir verbrüdern uns alle und lassen bei Trinksprüchen die nicaraguanisch-mexikanisch-österreichisch-finnische Revolution hochleben und es uns im Übrigen bei Bier und Tequila gutgehen. Stilgerecht endet die Nacht am Morgen mit einer Art von Gulaschsuppe in einer Markthalle und eine Mariachi-Band sorgt noch für folkloristische Untermalung....
Ich stehe mit dem Stadtplan in der Hand vor dem Eingang zu einer Metro-Station, als mich eine junge Mexikanerin anspricht, ob sie mir helfen könne. Wir kommen ins Gespräch und Janet lädt mich schließlich ein, mein Gepäck, das ich nicht in den Süden Mexikos und nach Guatemala mitschleppen möchte, bei ihrer Familie, die in einer Wohnung in einem bürgerlichen Stadtrandviertel lebt, bis zum Rückflug zu deponieren. Ungewöhnlich, in einer Metropole angesprochen zu werden! Und bei der Hinfahrt bekomme ich einen Eindruck von der beeindruckenden Größe dieser Stadt. Etwa fünfzehn Millionen Menschen leben hier unter einer immensen Dunstglocke, die meisten von ihnen zugezogen aus den armen Landregionen auf der Suche nach Arbeit und Auskommen.
Der Bruchteil einer Sekunde ist jene Zeitspanne, die in Mexiko City zwischen dem Umschalten einer Ampel auf Grün und dem ersten Hupsignal vergeht.
Ausflug nach Teotihuacán, das von den Azteken diesen Namen (=Wo man zu einem Gott wird) bekam, obwohl sie sie schon als Ruinenstadt vorfanden. Vor der Sonnenpyramide treffe ich einen US-Amerikaner, den ich schon aus dem Bus kenne. Er bittet mich, ein Foto von ihm vor dieser Hauptsehenswürdigkeit zu machen. Als ich ablehne, von ihm ebenfalls fotografiert zu werden, fragt er erstaunt und etwas ratlos, wie ich denn beweisen wolle, dass ich da gewesen bin.
Wenn ich dem aztekischen Namen Glauben schenke, habe ich damit quasi auf einen Beweis persönlicher Göttlichkeit verzichtet. Eigentlich schade!